In der Welt findet sich keine Mehrheit gegen die russische Aggression. Daran ist der Westen selbst schuld: Unsere Hybris sorgt für Ablehnung.
Die Mehrheit steht – hinter Russland
Die öffentliche Diskussion über den Krieg in der Ukraine hier in Deutschland und allgemein im Westen verteilt die Rollen klar. Täter und Opfer sind eindeutig. Russland ist Täter, hat die Souveränität eines anderen Landes mit Füßen getreten, ist verantwortlich für den Tod tausender Menschen, für apokalyptische Zerstörung und unendliches Leid. Die Ukraine ist das Opfer, und mit ihr stehen unsere Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Freiheit und Selbstbestimmung im Feuer.
Selten sind Gut und Böse in der Politik so eindeutig zuzuordnen.
In dieser Bewertung und ihrer eindeutigen Parteinahme wähnen wir uns in Übereinstimmung mit der gesamten zivilisierten Welt. Wir denken: Man kann doch hier nicht relativieren oder gar anderer Auffassung sein. Anständige Menschen, anständige Völker müssen in diesem Punkt so denken wir, müssen Seite an Seite gegen den Aggressor bei den Opfern stehen. So war es aus unserer Sicht zwangsläufig und klar, dass bei der Abstimmung in der UNO-Vollversammlung kurz nach Beginn der Invasion eine überwältigende Mehrheit von 141 Staaten die von den USA initiierte Verurteilung mitgetragen hat. Eine wahrlich beeindruckende Mehrheit stand hinter der Ukraine und stand für die bedrohten Werte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.
So weit der oberflächliche und sehr, sehr westliche Blick auf die Weltlage. Die Wahrheit allerdings ist ein bisschen komplizierter. Denn keineswegs steht eine Mehrheit in der Welt hinter dieser Verurteilung der Russen. Betrachtet man nämlich die Bevölkerungszahlen hinter den Stimmen der Staaten, so möchte man schaudern: Die 141 Staaten, die Russland verurteilt haben, stehen für rund 3,3 Milliarden Menschen. Auf der anderen Seite aber leben 4,6 Milliarden Menschen in Staaten, deren Repräsentanten dagegen gestimmt, sich enthalten oder gar nicht abgestimmt haben. Vor allem die Enthaltungen bilden eine gigantische Gruppe: 4,1 Milliarden Menschen, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Denn vor allem die mit Abstand größten Länder der Welt, China und Indien, waren nicht für eine Verurteilung zu gewinnen.
Und selbst im westlichen Block gibt es mächtig unsichere Kantonisten: Das ebenfalls groß Brasilien hat zwar zugestimmt, hat aber seitdem jedes Mal abgewunken, wenn es um Sanktionen gegen Russland ging.
So steht also eine Mehrheit. Aber sie steht abseits und mag sich nicht bekennen. Und aus der Sicht Putins steht sie damit faktisch hinter Russland. Denn eine Enthaltung ist aus Sicht des Aggressors eine gewonnene Stimme, weil sie letztlich dafür steht, ihm nicht entgegen zu treten.
Wenn wir das nicht verstehen, sagt das mehr über uns und unsere Rolle in der Welt aus als über die Staaten, die nicht mitmachen wollten. Warum sagen so viele Länder auf der Welt, dass sie eben nicht eindeutig Stellung beziehen wollen? Es dürfte im Wesentlichen drei Gründe geben: Für die meisten Länder und Menschen in der Welt ist die Ukraine sehr weit weg, geographisch und mental. Aus Afrika heraus oder gar aus Lateinamerika betrachtet, handelt es sich um eine europäische Angelegenheit, für die sich dort niemand verstärkt zu interessieren bereit ist. Denn betroffen ist man dort bestenfalls mittelbar: Die Auswirkungen auf Energiepreise und Nahrungsmittel sind zwar durchaus spürbar, in Teilen Afrikas sogar dramatisch. Deswegen mag es in diesen Gegenden sehr wohl den Wunsch nach einem Ende des Krieges geben. Man will dort, dass er ende. Aber wie er endet, ist kein sonderlich wichtiger Punkt. Eine Niederlage der Ukraine wäre dort kein größeres Drama.
Es lohnt, an dieser Stelle ehrlich zu sein, auch wenn es schmerzen mag. Denn diese Einstellung kennen wir doch von uns selbst. Auch wir interessieren uns für Konflikte anderswo auf der Welt nur dann, wenn sie uns selbst betreffen. Ohne diesen Bezug zu unserem eigenen Leben schaffen sie es kaum in die Nachrichten. Und eine eindeutige Position zu finden ist für uns in diesen Fällen anstrengend und wirkt schnell müßig und irgendwie überflüssig.
Der zweite Grund sind der Westen und sein Ruf. Vielleicht ist diese Erkenntnis noch schmerzhafter: Dass die Völker des Globalen Südens, wie wir die Entwicklungsländer heute geziert nennen, mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung auf uns schauen, ist mehr unser Wunsch als Realität. Unsere Rolle als wirtschaftliche Führer büßen wir mit dem Aufstieg der großen Schwellenländer mehr und mehr ein. Und dass wir eine Rolle als moralische Führer jemals wirklich gehabt haben, dürften jedenfalls in Lateinamerika und Afrika all diejenigen bestreiten, die je unter Kolonialismus oder Hegemonialstreben gelitten haben. Viel zu oft hat der Westen sich nicht an die Standards gehalten, die er stets so hoch hält.
Das Beispiel Brasiliens ist wiederum sehr eingängig: Der Rechtsaußen-Präsident Bolsonaro findet vieles an Putin, seinem Autokratenbruder im Geiste, höchst charmant. Daher wird er den Teufel tun, ihn mit Sanktionen zu ärgern. Aber auch seinen aussichtsreicher Herausforderer, der Linke Lula da Silva, stört vielleicht Putins unübersehbare Demokratieverachtung; aber immerhin ist Putin ein Feind der USA – und damit hat man bei der Linken in Südamerika immer einen Punkt.
So geht es vielfach auf der Welt: Die Autokraten sind häufig in Wolle gefärbte Putinisten, und die emanzipatorische Linke ist jedenfalls offen für jene Anti-USA-Koalition, als deren Führer sich Putin sich nunmehr versucht zu definieren.
Schließlich ist das, was wir in der Ukraine bedroht und von ihr heldenhaft verteidigt sehen – die liberale Demokratie – leider ein ziemlich westliches Ding. Wir – Westeuropa, Nordamerika, Japan und Australien – haben allzu gerne geglaubt, dass 1990 das „Ende der Geschichte“ gekommen sei und dass seitdem das weltweite Wunder von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie nur noch der Vollendung harre. Wir erwarteten die dankbare Annahme unserer Weltsicht durch all die Bekehrten. Was wir bekamen, war: China, Syrien, Afghanistan. Peking schafft Wohlstand für Hunderte von Millionen seiner Bürger ohne einen einzigen Schritt in Richtung Demokratie zu gehen. Der Islam wird stärker, und er wird antidemokratischer – und zwar auch dort, wo wachsender Wohlstand Säkularisation hätte erwarten lassen. In Afrika wenden sich Gesellschaften genauso gerne China zu wie dem Westen, sofern von dort mehr Hilfe zu erwarten ist – oder aber eine Hilfe, die keine lästigen Fragen nach Demokratie stellt. Und viele Länder Asiens und Lateinamerikas nehmen sich das Recht heraus, eigene Wege der Entwicklung zu nehmen, die bestenfalls Versatzstücke unserer Errungenschaften adaptieren und nutzbar machen, ohne bereitwillig all die Dinge zu kopieren, die sie nicht für passend halten. Dass inzwischen sogar in Washington, der Shining City unseres Lebensmodells, das Licht der Liberalität auszugehen droht, setzt dieser ernüchternden Bestandaufnahme einen bitteren Punkt. Jedenfalls aber ist der Krieg der Ukrainer für die Werte des Westens noch lange nicht der Krieg aller Völker der Welt.
Der letzte Punkt verdient noch einen weiteren Blick. Der Fehleinschätzung der Stimmung im Globalen Süden liegt vermutlich eine gängige Verwechselung zu Grunde, die in den postmodernen Salons in Berlin und Brüssel häufig anzutreffen ist. Die Attraktivität des westlichen Lebensmodells ist keineswegs in erster Linie seinen moralischen Werten zu verdanken. Persönliche Freiheit, Menschenrechte, individuelle Entfaltung, Diversität, Teilhabe und Demokratie sind für Milliarden Menschen abstrakte Konstruktionen, denen sie vielleicht kognitiv zuneigen. Echte Verlockung und emotionale Attraktion aber sind Wohlstand und Wirtschaftskraft des westlichen Modells. Deswegen hat die chinesische Führung diese Elemente ja auch eifrigst übernommen, ohne sich um die Moral zu scheren. Und überraschenderweise sind die Massen ihr gefolgt, ohne sich nach 1989 nochmals wahrnehmbar für Liberalisierung in der Gesellschaft einzusetzen. So passt es ins Bild, dass viele Migranten in Deutschland seine wirtschaftliche Sicherheit anziehend fanden und finden, mit westlicher Liberalität aber zeit ihres Lebens fremdeln. Am Ende reicht es, auf uns Deutsche selbst zu schauen: Als die DDR zerfiel, hatte die D-Mark schneller die Demokratie als Killer Feature der BRD abgelöst, als Helmut Kohl nach dem Mantel der „Geschischte“ grabschen konnte.
So weist aber diese im Ganzen ernüchternde Erkenntnis den Weg. Wir mögen überzeugt sein, dass die liberale Demokratie für uns die beste Gesellschaftsform der Geschichte ist, und dass sie wert ist, verteidigt zu werden. Doch nach außen ist jede Hybris verfehlt, die dieses Modell anderen Gesellschaften an anderen Orten zu oktroyieren versucht. Zwischen leuchtendem Beispiel und unangenehmem Besserwisser liegt häufig nur ein schmaler Grat. Wichtiger noch: Wir müssen stets bedenken, dass unsere Wirtschafts- und Innovationskraft der wahre Schatz ist, auf dem wir sitzen und der uns attraktiv und stark macht. Wer hieran die Axt legt – und das tun die werteverliebten Westler immer häufiger – macht die liberale Demokratie zum weltweiten Ladenhüter.